Persönlichkeit - Was ist das eigentlich? (28.06.2020)

 

Als ich noch Psychologie studiert habe, trat beinahe jedes Semester ein typisches Phänomen auf. Beim Blick ins Vorlesungsverzeichnis klangen viele Veranstaltungen spannend. Dementsprechend groß war dann auch meine Vorfreude. Allerdings kühlte die in den ersten Vorlesungen oder Seminaren deutlich ab. Da wurden in teils epischer Breite Definitionen des behandelten Gegenstandes und Forschungsmethoden ausgewalzt, die nötig waren, um ihn zu beschreiben und zu erklären. Damals hatte ich mir geschworen, dass ich – sollte ich jemals eine Einführungsveranstaltung in ein psychologisches Thema geben – darauf verzichten würde, diese „langweiligen“ Basics darzustellen.

Meinen Blog über die Persönlichkeitspsychologie für Schreibende möchte ich nun trotzdem mit einem Beitrag über Definitionen und Begriffsklärungen beginnen. Woher also dieser Sinneswandel? 

 

Warum ist eine Definition sinnvoll?

Gerade beim Thema Persönlichkeit ist m. E. eine wissenschaftliche Gegenstandsbestimmung sehr wichtig, um die enorme Breite des Begriffs nicht aus dem Blickwinkel zu verlieren. Viele Persönlichkeitstheorien beschäftigen sich mit Ausschnitten der Persönlichkeit und vernachlässigen dafür andere Aspekte. In den heutzutage so beliebten Persönlichkeitscoachings geht es z.B. meistens darum, bestimmte Persönlichkeitsbereiche zu optimieren, die für den beruflichen Erfolg wichtig sind wie Führung oder Soziale Kompetenz. Andere Persönlichkeitseigenschaften wie etwa Ängstlichkeit oder Introversion werden dagegen meistens nicht beachtet. 

Wenn wir für ein Schreibprojekt eine Figur entwerfen, kann diese an Vielfalt und Lebendigkeit gewinnen, indem wir möglichst viele Aspekte ihrer Persönlichkeit kennen und zeigen. Wenn wir uns dagegen auf wenige Bereiche beschränken, wächst die Wahrscheinlichkeit von stereotypen und vorhersehbaren Figuren. Streng nach dem Myers-Briggs Typenindikator gebaute Figuren unterscheiden sich beispielsweise nur in wenigen Aspekten ihrer Persönlichkeit, so prägnant, vielfältig und scheinbar wissenschaftlich fundiert manche Beschreibungen der Typen auch klingen mögen. 

Deshalb möchte ich mich zunächst einmal dem Begriff der Persönlichkeit in seiner ganzen Komplexität annähern und danach kurz auf die verwandten Konzepte Temperament undCharakter eingehen.

 

Persönlichkeit: Alltag vs. Wissenschaft

Wenn wir von der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs Persönlichkeit ausgehen, fällt auf, dass diesem im Vergleich zum eher neutralen Begriff Person in der Regel eine positive Bedeutung beigelegt wird. In Nachrufen wird oft die Persönlichkeit von Verstorbenen hervorgehoben, manchmal liest man auch Sätze wie „Sie war eine große/bedeutende/schillernde Persönlichkeit“. Die Betonung liegt hier auf der wahrgenommenen, in der Regel positiv bewerteten Einzigartigkeit der verstorbenen Person. Im Englischen dagegen wird der Begriff ausgewogener benutzt, hier werden häufiger auch negative Eigenschaften mit Personality verknüpft.

Wie definiert nun aber die Persönlichkeitspsychologie ihr Forschungsgebiet? Wenn ich es mir einfach machen würde, könnte ich mich Hall und Lindsey (1988) anschließen, die angesichts der Tatsache, dass Gordon W. Allport bereits 1937 in einer Literaturübersicht 50 verschiedene Definitionen (einschließlich seiner eigenen) des Begriffs aufführt, zu dem Schluss kommen, dass

 

„Persönlichkeit definiert wird durch die besonderen empirischen Begriffe, welche Teil der vom Beobachter benutzten Theorie der Persönlichkeit sind.“ 

 

Kurz gesagt: Persönlichkeit ist, was der jeweilige Theoretiker darunter versteht. Das mag zutreffend sein, hinterlässt aber zumindest bei mir einen unbefriedigenden Nachgeschmack. Glücklicherweise haben sich andere Forscher nicht so einfach aus der Verantwortung gestohlen.

 

Differentielle Psychologie

Ein verbreiteter Ansatz, Persönlichkeit wissenschaftlich zu erfassen, betrachtet die Unterschiedlichkeit von Menschen bezüglich einer je nach Theoretiker variierenden Anzahl von Persönlichkeitseigenschaften, sogenannten Traits. Mit der Beschreibung, Erklärung und Vorhersage dieser Unterschiedlichkeit beschäftigt sich eine der Persönlichkeitspsychologie sehr nah verwandte Disziplin, die Differentielle Psychologie. Nach Amelang und Bartussek (1997) betrachtet diese

 

Die Beschreibung und Analyse derartiger unterindividueller Differenzen, sofern sie verhaltensrelevant sind

 

oder wie Laux (2008) es formuliert: 

 

Die Differentielle Psychologie versteht unter Persönlichkeit die Gesamtheit aller Merkmale einer Person, in denen sie sich von anderen unterscheidet.“

 

Das bekannteste Beispiel für einen differentialpsychologischen Ansatz zu Beschreibung der Persönlichkeit sind die sog. Big Five, also die Traits 

 

  • Offenheit für Erfahrungen
  • Gewissenhaftigkeit
  • Extraversion
  • soziale Verträglichkeit und
  • Neurotizismus. 

Diese sind durch empirische Studien gut belegt und bilden inzwischen so etwas wie den zentralen Kern der modernen Persönlichkeitspsychologie (vgl. Rauthmann, 2017). Wir können jeden Menschen auf diesen fünf Dimensionen einordnen und so ein individuelles Persönlichkeitsprofil erstellen. Aber reicht das aus, um seine Persönlichkeit als Ganzes zu beschreiben? Was ist mit der Intelligenz? Der Kreativität? Der Spiritualität? Was ist mit Erfahrungen? Zielen? Plänen? Und selbst wenn wir all diese Aspekte auch noch betrachten: Können wir einen Menschen vollständig durch seine Eigenschaften beschreiben? Oder ist das Ganze – wie die Gestaltpsychologen zu sagen pflegten – mehr als die Summe seiner Teile?

 

Eine umfassende Definition

Nützlicher als reine Auflistungen von Eigenschaften finde ich die bei Laux (2008) aufgeführte, umfassende Definition von Pervin:

 

„Persönlichkeit ist die komplexe Organisation von Kognitionen, Emotionen und Verhalten, die dem Leben der Person Richtung und Zusammenhang gibt. Wie der Körper so besteht Persönlichkeit aus Strukturen und Prozessen und spiegelt „nature“ (Gene) und „nurture“ (Erfahrung) wider. Darüber hinaus schließt Persönlichkeit die Auswirkungen der Vergangenheit ein, insbesondere Erinnerungen, ebenso wie die Konstruktion der Gegenwart und Zukunft.“

 

Bei Pervin sind die verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften (Kognitionen, Emotionen und Verhalten) organisiert und dadurch aufeinander bezogen. Sie beeinflussen sich gegenseitig und stehen nicht isoliert da. Zudem ist diese sehr komplexe und von Mensch zu Mensch unterschiedliche Organisation überdauernd. Sie entsteht aus dem Zusammenspiel von Genen und Umwelteinflüssen, bezieht Erfahrungen aus der Lebensgeschichte mit ein und richtet sich durch Ziele und Pläne auf die Zukunft aus.

Ich finde diese Definition sehr hilfreich, weil sie m.E. alle wichtigen Aspekte des Begriffs „Persönlichkeit“ umfasst, ohne zu ausschweifend zu werden.

 

Temperament und Charakter

Im Alltag verwenden wir diese Begriffe oft als Synonyme für „Persönlichkeit“. Aber wo liegen die Unterschiede?

 

Temperament

Der Begriff Temperament geht auf die Persönlichkeitstypologie von Hippokrates zurück, der Menschen nach dem Mischungsverhältnis ihrer Körpersäfte in Melancholiker (schwarze Galle), Sanguiniker (Blut), Choleriker (gelbe Galle) und Phlegmatiker (Schleim) einteilte. Modernere Temperamentstheorien wie die von Strelau oder Eysenck sahen Temperament als den vorwiegend genetisch geprägten Teil der Persönlichkeit, der sich auf die unterschiedliche Intensität bezieht, mit der Menschen auf vorgegebene Reize reagieren (vgl. Amelang & Bartussek, 1997). Damit wird also eher ein Stil beschrieben, mit dem Menschen mit ihrer Umwelt interagieren, z.B. ob sie eher impulsiv oder eher kontrolliert reagieren, gemächlich oder schnell, aufgeregt oder gechillt.

Laux (2008) weist darauf hin, dass sich in der Persönlichkeitspsychologie Temperamentsfaktoren häufig auf Persönlichkeitsmerkmale im engeren Sinn beziehen, also beispielsweise auf die Big 5 , nicht aber auf Leistungsmerkmale wie etwa Intelligenz, Kreativität oder auch Motivation. 

 

Charakter

Auch diesen Begriff gibt es bereits seit der Antike. Am bekanntesten dürfte wohl das – übrigens sehr lesenswerte – Werk „Charaktere“ des Griechen Theophrast sein, in dem dieser dreißig verschiedene Charaktertypen beschreibt, die sich vor allem durch negative Merkmale auszeichnen, wie etwa „Der Taktlose“ oder „Der Ekelhafte“. 

Nach Laux (2008) beinhaltet „Charakter“ zwei Bedeutungsvarianten. Zum einen

 

„Das Unveränderliche im Wesen des Menschen“,

 

zum anderen 

 

„Charakter im Sinne moralischer Vortrefflichkeit“.

 

Im letzteren Sinne findet sich der Begriff beispielsweise bei Kant. Auf dieser Tradition baute bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts auch die deutschsprachige Persönlichkeitspsychologie auf, für die die Bezeichnung „Charakterkunde“ gebräuchlich war. Durch den Einfluss der US-amerikanischen Psychologie und der dort vorherrschenden Verwendung des Begriffs „Persönlichkeit“ wurde der „Charakter“ in die Alltagssprache verbannt. Im Vergleich zur „Persönlichkeit“ beschreibt er im Deutschen auch negative, moralisch wertende Aspekte: ein zwielichtiger/zweifelhafter/fragwürdiger Charakter.

 

Nutzen für das Schreiben?

Theorien sollten m. E. immer einen Anwendungsbezug haben und wenn ich in einem Blog über Persönlichkeitspsychologie und Schreiben theoretische Überlegungen zur Definition von Persönlichkeit darlege, sollten die Leser*innern auch einen praktischen Nutzen davon tragen. Ich denke, dass der heutige Beitrag ein paar Denkanstöße zur Figurenentwicklung in literarischen Texten liefern kann, die ich in folgenden Fragen zusammenfassen möchte:

 

  • Wie definiere ich für mich selbst Persönlichkeit? 
  • Welche Bereiche der Persönlichkeit habe ich bislang vielleicht ausgeklammert oder übersehen?
  • Beziehe ich Vergangenheit und Zukunft in die Ausarbeitung meiner Figuren mit ein?
  • Kann ich ungewöhnliche Kombinationen von Persönlichkeitsmerkmalen nutzen, um Figuren zu erschaffen, die außerhalb meiner Komfortzone liegen?
  • Welche Aspekte der Persönlichkeit könnten eine antagonistische Figur komplexer wirken lassen?
  • Welches Temperament weisen meine Figuren auf, wie ist ihr Charakter moralisch zu bewerten.

 

Natürlich ließe sich das noch weiter ausführen, zum Thema Persönlichkeit wurden viele sehr dicke Bücher geschrieben. Wer bis hierher durchgehalten hat, von meinen Ausführungen nicht abgeschreckt wurde und sich gerne noch mehr in die Thematik vertiefen möchte, sollte sich unbedingt das Einführungswerk „Persönlichkeitspsychologie“ von Lothar Laux vornehmen. Es ist für ein deutschsprachiges Lehrbuch erfrischend locker und verständlich geschrieben und zieht vor allem viele Querverbindungen zu literarischen Werken aber auch zu anderen Medien wie Filmen oder dem Internet. Ich wurde für diese Werbung übrigens nicht bezahlt ;-).

 

Literatur 

Amelang, M. & Bartussek, D. (1997). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. Stuttgart: Kohlhammer.

Hall, C.S. & Lindzay, G. (1978). Theorien der Persönlichkeit. Band 1. München: Beck

Laux, L. (2008). Persönlichkeitspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.

Rauthmann, J. F. (2017). Persönlichkeitspsychologie: Paradigmen – Strömungen – Theorien. Berlin: Springer.